MEINE GESCHICHTE ZUR RHETORIK (TEIL 3)

Einige der Teilnehmer lachten, andere schmunzelten und der Beifall kam mir vor wie Hohn.
Das mache ich nie wieder, das ist nichts für mich, ich fahre wieder heim, sagte ich zu mir. Für mich war dieser Auftritt Horror, am liebsten wäre ich in Grund und Boden versunken. In der Pause ging ich in den Park und überlegte wie ich schnell von hier verschwinden kann. Von der letzten Stunde vor der Mittagspause bekam ich vor lauter Schamgefühl und wegen der Überlegungen, wie ich am besten von hier verschwinden kann, fast nichts mehr mit. Um die Hotelkosten sparen zu können, war ich von Rademacher ins Institut eingeladen worden. Ich hatte eines der Gästezimmer und auch essen durfte ich im Institut. Die Teilnehmer fuhren alle ins Nachbardorf in ihr Hotel und nahmen dort ihr Mittagessen ein. Am Institutsmittagstisch kreisten meine Gedanken nur darum, wie komme ich hier weg. Nach dem Essen zog sich Rademacher zurück. Das war die Gelegenheit. Handys gab es damals noch nicht, also fragte ich im Institutsbüro nach, ob ich ungestört telefonieren dürfe. Ich durfte, also bestellte ich mir ein Taxi. Die Taxiquittung vom Bonner Taxi hatte ich ja noch. Bis das Taxi aus Bonn kam, dauerte es. In der Zwischenzeit packte ich meinen Koffer, räumte das Gästezimmer und wartete. Als die Teilnehmer wieder zurück kamen und sich auf die nächste Rede vorbereiteten war das Taxi immer noch nicht da. Endlich kam es. Ohne mich zu verabschieden ging ich zum Taxi, das im Institutshof wartete, verstaute meinen Koffer im Kofferraum und wollte gerade einsteigen. Mein Sitznachbar, der Vorstand beobachtete mich die ganze Zeit und informierte Rademacher, das der Posch abhauen will. Als ich gerade einsteigen wollte, das linke Bein hatte ich schon ins Taxi gestellt und die Türe in der Hand, da rief jemand sehr laut: „Posch! Posch! Ich drehte meinen Kopf und blickte zur Tür. Es war Rademacher selbst, hinter ihm stand der Vorstand. Dieser Mistkerl, dachte ich. Wie peinlich, ich fühlte mich ertappt. Und Rademacher rief weiter: "Posch! Hau nicht immer ab! Halte durch – mach das Seminar, du brauchst auch nichts zu bezahlen, mache das Seminar bis zum Ende mit, dann kannst du abhauen! Bring zu Ende, was du angefangen hast". Diesen Satz kannte ich von meinem Vater. Hau nicht immer ab, dieser Satz war mein Satz. Du brauchst auch nichts zu bezahlen, das Seminar kostete damals schon 1.000,00 DM + MwSt. Dass ich sowieso als Gast zu dem Seminar eingeladen war, erfuhr ich erst später. Hau nicht immer ab und nichts zu bezahlen, waren zwei Argumente die wirkten. Ich gab dem Taxifahrer 10 DM, holte meinen Koffer aus dem Kofferraum und machte weiter. Im Nachhinein war das eine meiner besten Entscheidungen, die ich bis dahin getroffen hatte.
Die Aufgabe, die wir in der Mittagszeit zu lösen hatten, war ein Interview mit dem rechten Nachbarn zu führen. In meinem Fall war das der Vorstand, der natürlich darauf wartete, dass ich ihn interviewte.Das Interview mit dem Vorstand lief gut und er verhielt sich mir gegenüber sehr respektvoll. Auch die Rede über ihn, die ich nachmittags hielt, bekam ich hinter mich.
Spannende Themen wie Dramentechnik und Du-Standpunkt erwarteten uns bis zum Abend des ersten Seminartages. Für meine Rede zum zweiten Seminarvormittag bereitete ich mich die halbe Nacht vor. Überlegte, durchdachte, feilte und arbeitete ich an jedem Satz und bemühte mich hochdeutsch zu sprechen. Für meine Verhältnisse war das dann schon preußisch, für die Teilnehmer dafür eher verständlich. Den Beifall den ich dann erhielt, empfand ich nicht mehr als Hohn, sondern als Belohnung. Besonders die Damen unter den Teilnehmern und der Vorstand beglückwünschten mich zwischendurch in den Pausen zu meiner Steigerung. Doch mein „eigentlicher“ Durchbruch sollte erst noch kommen. Für den zweiten Nachmittag stand eine Ausdrucksübung auf dem Programm. In der Mittagszeit mussten wir eine Geschichte auswendig lernen, es war die „Freundgeschichte“. Es ist eine Ausdrucksübung für den Atmen, den Körper und für die Stimme. Viele Gesten, die Mimik, der Tonfall, die Sprechgeschwindigkeit und Stimmungen wurden in dieser Übung trainiert, vom zärtlichsten Ton bis zum lautesten Schrei des Jahres, vom schnell- und nebenbei Sprechen, über das einfühlsame oder bestimmte Sprechen bis zum kraftvollen ausdrucksreichen Sprechen wurde alles beachtet und bewusst gemacht. Diese Übung war für mein Leben mit die wichtigste und entscheidendste. Rademacher provozierte mich so heftig, immer wieder und wieder. Obwohl ich kurz davor war, wieder mal abzuhauen oder diesem penetranten Rademacher eine aufs Sprachrohr zu hauen und diese Übung abzubrechen, hielt ich durch. Rademacher sagte: "Setze es um, schlag nicht mit Fäusten, setzte es um mit deiner Stimme, durch deine Stimme". Ich habe geschrieen, als ob es um mein Leben ginge. Vielleicht habe ich als Kind schon mal so geschrienen, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich schrie und schrie, musste weinen, die Tränen flossen, sodass ich kaum noch etwas sehen konnte, ich zitterte und bebte am ganzen Leib, Gänsehaut lief mir über den Rücken und vor meinem geistigen Auge sah ich Mauern. Mauern, auf denen stand: Das kannst du nicht, das darfst du nicht, das gehört sich nicht. Dann fingen die Mauern an zu wackeln, Steine bröckelten ab und alles fiel in sich zusammen. Ich atmete tief durch und putzte mir die Nase, nachdem diese Übung, die nie zu enden gehen schien, endlich vorbei war. Ich fühlte mich befreit, so befreit hatte ich mich noch nie gefühlt, vorher und nachher nicht. Sehr gut erinnere ich mich auch daran, dass die Damen des Seminars sehr schockiert waren, einige weinten sogar, die Herren waren erschrocken und Rademacher erst einmal sprachlos. Er umarmte mich damals und sagte: „Posch, das war deine Geburt in den Ausdruck, so etwas Heftiges habe ich so noch nicht erlebt, ich brauche jetzt eine Pause“. Diese Pause brauchten wir alle.

 

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„Wir gehen oft mit unserem Leben um,
als hätten wir ein Zweites in der Tasche.“
Andreas Posch
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